„Nur Utopien sind realistisch – über eine feministische Zukunft“

Das Manuskript (unredigiert) zur Vorlesung an der Universität Bonn am 5. Februar 2020. (Website)

Guten Abend und vielen Dank zum einen für die Einladung, hier heute sprechen zu dürfen, aber auch, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Ich freue mich auf das Gespräch mit Ihnen nach dem wir einen kurzen Blick in die feministische Zukunft werfen, zu dem ich eine von vielen Perspektiven beitragen kann. Denn zu feministischen Utopien könnte man eine mehrwöchige Konferenz machen.

Feminismus gibt selten Antworten.

Feminismus lädt zum Denken ein.

Er lädt uns dazu ein, groß zu denken, utopisch.

Wenn wir uns also heute fragen, was ist feministische Politik, was ist feministisches Denken, Handeln, dann müssen wir Feminismus daran messen, ob er in der Lage ist, weit in die Zukunft zu blicken und mutig zu sein. Als Feminist*innen müssen wir Vertrauen haben in andere, die ihren Beitrag leisten, da nicht eine Denkerin allein all die Ideen haben wird. Feminismus macht daher auch aus, immer voneinander lernen zu wollen und zu wissen, dass man selbst falsch liegen wird.

Verstehen Sie Feminismus daher als Denk-Technik. Als Träumen. Lassen Sie sich nicht davon eingrenzen, was jetzt machbar ist. Progressive Politik bedeutet, in Bewegung zu bleiben. Progressive Politik bedeutet, sich davon nicht den Mut nehmen zu lassen, dass man Ihnen sagen wird, was Sie sich vorstellen, das sei unmöglich. Unsere gesellschaftliche Weiterentwicklung braucht Menschen, die daran glauben, dass andere Wege möglich sind. Ich nehme an, sonst wären Sie heute Abend auch gar nicht hier.

Wenn Sie Visionen haben, dann sollten Sie Feminist*in werden.

Ich kann Ihnen eine Hoffnung nehmen: das feministische Projekt wird niemals abgeschlossen sein.

Die Zahlen, die sich manchmal hören, bis wann die Gleichberechtigung erreicht sein wird, können nicht stimmen, weil sich unser Verständnis davon, was Gleichberechtigung bedeutet, permanent wandeln muss, um der Gleichberechtigung dienen zu können.

Ich möchte Sie heute dazu einladen, mit mir weiterzudenken und auch das aus dieser Vorlesung dann mit nach Hause nehmen, in ihre Familien, zu ihren Freund*innen, auf ihre Arbeitsstätten und überall dort, wo sie gemeinsam mit anderen weiterdenken können.

Wenn eine Utopie, abgeleitet von den griechischen Worten Eu-Topos „der gute Ort“ und Ou-Topos “der Ort, des es nicht geben kann“, also der beste Ort ist, den es jemals geben kann, die beste Gesellschaft oder auch die ideale Gesellschaft sein soll, wo fangen wir an? Wo fängt eine Feministin an?

Ich könnte zum einen anfangen und fragen, wenn es diesen Ort noch nicht gibt, kann er dann überhaupt eine Weiterentwicklung von dem sein, was wir gerade sehen? Ist es utopisches Denken, etwas zu verbessern und vor allem mit dem zu arbeiten, was schon da ist und was wir kennen?

Oder müssen wir alles, was wir wissen, vergessen? Ganz neu anfangen?

Was ist das Post-Patriarchat? Welche Gegebenheiten, die wir im Patriarchat als schädlich empfinden, sollen enden? Und was folgt darauf? Sind wir schon im Post-Patriarchat? Und wenn ja, was folgt darauf?

Von welchem Standpunkt aus spreche ich? Was stört mich an der gegenwärtigen Gesellschaft? Welche Menschen muss ich zusammenbringen, damit eine feministische Utopie nicht Ausgrenzungen produziert, die Feminist*innen nicht beabsichtigt haben? Wie gelingt eine feministische Utopie, die keine Form der Unterdrückung übersieht?

Aus meiner Sicht wohnt dem Mainstream-Feminismus, der die Art des Feminismus ist, die sich in politischen Programmen wiederfindet, der die mediale Berichterstattung dominiert und für Interessierte in der Regel der Einstieg ist, ein Denkfehler inne, der gerade verhindert, dass feministische Utopien entstehen können und das feministische Denken kleiner bleibt, als es sein könnte. Wie soll Feminismus mitreißend sein und mobilisieren, wenn die Visionen zu klein sind?

  • Ist eine 30 Prozent-Quote für Vorstände etwas, dass Sie mitreißt?
  • Sind ein paar Millionen Euro mehr für Kitas etwas, dass Sie mitreißt?
  • War die Tatsache, dass Deutschland endlich eine Frau als Kanzlerin hatte, schon die feministische Revolution?

 

Der Mainstream-Feminismus orientiert sich an männlichen Maßstäben. Zum einen hat es eine zu brave Debatte geschafft, dass Feminist*innen sich mit dem „Gefühl der Gerechtigkeit“ teilweise zufrieden geben. Feministische Bündnisse haben zweifellos in den letzten 200 Jahren immer wieder Meilensteine für die juristische Gleichstellung errungen und Diskurse verändert. Öffentliche Debatten haben das gesellschaftliche Miteinander feministischer gemacht. Doch: Wenn wir Feminismus als Gleichstellung missverstehen, dann orientieren wir uns an den Maßstäben, die Männer sich ausgedacht haben. An einem männlichen System – das – und auch das steht freilich zur Debatte – nicht geeignet ist, wirkliche Gleichberechtigung jemals zu ermöglichen. Weil etwas, das in seiner Entstehung auf männliche Bedürfnisse und Besonderheiten ausgerichtet war, an den Bedürfnissen von weißen Männern, nicht behinderten Männern, so ein System lässt sich nicht reparieren oder transformieren zu einer Struktur, in der alle Menschen gleich gut zurechtkommen und ihre Träume realisiert sehen.

Der Erfolg, dass eine Gesetzgebung realisiert wurde, die Frauen und Männern gleiche Rechte geben soll, erzeugt das „Gefühl der Gerechtigkeit“ und eine zeitliche Nähe zur Vollendung der Gleichberechtigung. In der Logik kann man also denken: Frauen haben das Wahlrecht, deswegen ist die Gleichstellung in diesem Bereich bereits erreicht. Die Unterrepräsentanz der Frauen in den Parlamenten, in politischen Spitzenämtern, ihre Beteiligung an Parteien kann nur eine Frage der Zeit sein. Aber stimmt das wirklich? Glauben Sie, dass es ohne Gesetz nur eine Frage der Zeit sein wird, bis 50 Prozent Frauen im Bundestag als Abgeordnete sitzen werden? 50 Prozent sehr unterschiedliche Frauen, kommen die über ein Paritätsgesetz in die Parlamente? Und angenommen, dies würde binnen von 25 Jahren realisiert: Wie gut ist eine Gesetzgebung, wie gut ist das politische System, das prinzipiell für gleiche Rechte für alle Geschlechter ist – aber der Fortschritt nur im Schneckentempo gelingt? Sind die Ideen für Gleichberechtigung an dieser Stelle vielleicht nicht ausgereift? Was wurde übersehen?

Können Gesetze dabei helfen, die Gewalt gegen Frauen, ganz gleich ob häuslich – also durch den Partner – oder sexualisierte Gewalt zu beenden? Finden wir die Antworten darauf in den existierenden Instrumenten für rechtliche Gleichstellung? Reicht es also aus, wenn Feminist*innen sich auf Gesetze konzentrieren, oder welche Mittel brauchen sie noch?

Genauso kann man auch fragen, wie gut bereitet ein Lehrstuhl für Politik und Soziologie seine Studierenden auf die Gegenwart vor, wenn die Professor*innen zu 90 Prozent männlich und weiß sind, wie hier an diesem Lehrstuhl, und einige Literaturlisten ohne Denkerinnen auskommen? Wie umfassend ist das Wissen, das vermittelt wird, wenn es nicht aus allen Lebenswelten stammt? Die Kritischen Politikwissenschaftler*innen und Soziolog*innen befassen sich mit diesen Themen hier an der Universität.

Aber um nun deutlich zu machen, was ich mit Orientierung am männlichen Maßstab meine: Kann es in einer gesellschaftlichen Architektur, die zu großen Teilen von weißen, gebildeten, gesunden Männern entworfen wurde, vielleicht deshalb keine vollendete Gleichstellung geben, weil diese Maßstäbe, diese Vision einer Gesellschaft – von ihren weiblichen Mitglieder – von allen Menschen, die von den Architekten der modernen Gesellschaft abweichen – nicht geteilt wird? Weil das nicht ihre Vorstellung eines guten Lebens ist? Weil sie eine andere Vorstellung von Politik haben? Von Wirtschaft. Von Familie.

Ich habe vor der letzten Bundestagswahl 2017 mit sehr vielen jungen Frauen gesprochen darüber, welche Partei sie wählen werden. Und die häufigste Antwort, die ich bekam war: „Ich weiß es nicht. Ich möchte im linken Spektrum wählen, aber keine der Parteien sagt mir wirklich zu.“ Könnte es sein, dass die derzeitigen linken politischen Ideen zu wenig weiblich und zu wenig intersektional geprägt sind?

Gelingt uns die Gleichberechtigung nicht, weil wir sie nicht als feministische Utopie entworfen haben, sondern als Erreichen des männlichen Maßstabs für diese Welt?

Warum sollte es Frauen begeistern, sich in eine von Männern entworfene Welt einzupassen?

Würde das nicht wieder bestätigen, dass Männer allwissend sind und ihre Ideen eigentlich auch perfekt waren für Frauen und andere Geschlechter, nur eben mit kleinen Fehlern, auf die u.a. Feminist*innen ein paar Hundert Jahre lang hinweisen mussten – und sie dann nach für nach behoben wurden. Sind Frauen nur für die Fehlerkorrektur zuständig? Ich denke nein. Sehr viele Frauen sind zu großen Ideen fähig.

Und seien wir ehrlich: Ein Teil der Männer, die Politik und Wirtschaft und das Leben in seiner jetzigen Form am Laufen halten, die sind der festen Überzeugung, eigentlich sei schon alles perfekt und bei Feminist*innen handele es sich nur um einige wenige verwirrte Frauen, denen die Schönheit ihrer Küche noch nicht klar geworden ist und die nicht demütig die Aufgabe der Aufzucht annehmen wollen und die Freuden der Mutterschaft nicht erkennen.

Diese Menschen sitzen unter anderem für die AfD im Bundestag, aber nicht nur in dieser Partei.

Ich möchte an dieser Stelle kurz auf eine Orientierung am männlichen Maßstab hinweisen, den sich einige Feminist*innen sogar für Utopien zu eigen gemacht haben. Und das ist die Auslagerung des Kinderkriegens an externe Gebärmütter, an Technologie. Das taucht u.a. Bei Shulamith Firestone in den 70ern aber auch bei Laurie Penny auf. Der Gedanke, dass nicht mehr gebären zu müssen, Frauen befreien könnte. Könnte eine andere Möglichkeit nicht auch sein, dass Menschen weiterhin gebären können – und trotzdem frei sind? Kann uns von den Einschränkungen, die das Kinderkriegen mit sich bringt, nur Technologie befreien. Zudem gibt es für dieses Szenario eine Warnung: Selbst wenn Frauen sich vom Kinderkriegen befreien wollten und das Austragen von ihnen zukünftig lieber künstlichen Gebärmüttern überlassen wollen würden – dann müssten sie vorher sichergestellt haben, dass sie in einer geschlechtergerechten Welt leben – denn anderweitig geht ihnen die Macht, die das Schwangerwerdenkönnen derzeit darstellt, auch noch verloren und andere Menschen bestimmen über die Reproduktion.

Kommen wir darauf zurück, dass Feminist*innen, Frauen und andere marginalisierte Gruppen sich vielleicht auch deshalb nicht an den gegenwärtigen Gleichberechtigungsbestrebungen beteiligen, weil sie nicht in diese Ideen hineinpassen wollen.

Dieses Nicht-Passen-Wollen in die gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen ist nichts, was nur von Frauen mehr oder weniger bewusst vertreten wird. Denn das, was wir gemeinhin als moderne Gesellschaft beschreiben würden, grenzt nicht nur Frauen aus. Die Diskriminierungsmechanismen sind komplexer. Bestimmte Frauen werden von der Gesellschaft mittlerweile sogar nahezu vollständig eingeschlossen, so dass es in ihrem besten Interesse ist, die Gesellschaft, so wie sie gerade ist, zu stabilisieren. Das beantwortet, warum so viele weiße Frauen Trump gewählt haben oder es beantwortet auch, warum in Deutschland sehr viele Frauen konservativ wählen, während sie als Feminist*in oder progressiv verorteter Mensch sich darüber nur wundern können und sagen: Aber die Konservativen bremsen doch viele gleichstellungspolitische Ideen. Warum würden Frauen sie wählen wollen? Weil diese Frauen es unter den gegebenen Umständen aktuell sehr gut haben, sie von den Strukturen profitieren und es nicht in ihrem Interesse ist, daran etwas zu ändern. Veränderung ist anstrengend.

Denn auch das ist etwas, das für eine feministische Utopie durchaus eine Rolle spielen könnte: Wenn diese Zukunftsvision zum Beispiel eine Gesellschaft sein soll, in der gleiche Rechte für alle gelten, in der Unterdrückungsmechanismen passé sind, in der Menschen nicht mehr das Bedürfnis haben, sich über andere zu stellen, sich besser zu fühlen und sich Vorteile zu verschaffen, dann wird sich das Leben für sehr viele, auch für Sie in diesem Raum, sehr stark verändern und Anpassungen erfordern, die vielleicht am Anfang sehr ungewohnt sind, die Ihnen gar nicht so gut gefallen und die sich nicht anfühlen wie das Paradies.

Wie stehen Sie zu einer Utopie, die bedeutet, dass Sie Privilegien abgeben werden?

Ist das für Sie noch eine Utopie? Oder ist eine Utopie für uns nur dann vorstellbar, wenn für uns ganz individuell das Leben plötzlich angenehmer wird?

Was soll denn das für eine Utopie sein, in der ich keine Putzkraft mehr haben kann?

Zu diesem Gedanken, dass eine Utopie auch anstrengend sein kann, möchte ich Sie ganz besonders einladen und noch einmal auf die unterschiedlichen Standpunkte verweisen, von denen wir aus sprechen und denken. Was ist ihre persönliche Utopie und was könnte eine Utopie sein, in der wir die Interessen von ganz unterschiedlichen Menschen zum Ausgleich bringen? Was ist eine Utopie für viele?

An welchem Maßstab soll also eine feministische Utopie die Welt neu ausrichten?

Sie kann sich in jedem Fall nicht an den dominierenden männlichen Maßstäben für ein gutes Leben orientieren.

Sie kann sich nicht an den Maßstäben einer weißen heterosexuellen Frau aus der Mittelschicht orientieren.

Um es einmal ganz simpel herunterzubrechen: Dass jeder Mensch eine gute bezahlte Vollzeitstelle hat, ein Eigenheim und zwei niedliche, kluge Kinder – das ist keine feministische Utopie.

In der gegenwärtigen Situation mag uns eine Quote für Führungspositionen und Parlamente sinnvoll erscheinen, transparente Gehälter und Equal-Pay als eine gute Idee und gute Kitas und Ganztagsschulen, die den Betreuungsbedarf decken, sogar als eine kleine Utopie, die mehr Geschlechtergerechtigkeit ermöglichen wird. Aber eine feministische Utopie sieht grundlegend anders aus.

Wir müssen – um feministische Utopien zu entwickeln – und ich spreche bewusst im Plural, denn wir brauchen viele von ihnen – um sie zu entwickeln müssen wir das, was wir über das Funktionieren der Welt wissen, auf null setzen – um die existierenden Maßstäbe zu überwinden.

Sie können ihr Geschlecht auf null setzen und davon ausgehen, dass es keine Rolle spielen darf. Sie können genauso gut sagen, Geschlecht wird immer irgendeine Art von Rolle spielen, aber das meiste davon, was gerade als geschlechtstypisch verortet wird, setzen Sie auf null. Sie sollten, um eine feministische Utopie zu entwickeln, sich durch alle Altersstufen denken können – von 0 bis 100. Denken Sie über weit über ihr jetziges Leben hinaus und erinnern Sie sich noch einmal an den Zeitpunkt ihrer Geburt und beginnen Sie ihr Denken hier. Lassen Sie sich auf den Gedanken ein, dass Sie überall in der Welt geboren werden können. Dass es Sie im Laufe Ihres Lebens an ganz unterschiedliche Orte in der Welt verschlagen wird – und dass Sie an diesem Ort ein vergleichbar gutes Leben führen können sollten wie anderswo. Wird ihr Aussehen, Ihre Kleidung eine Rolle spielen?

Für utopisches Denken müssen Sie also ganz viel von dem vergessen, was sie gerade über die Welt wissen. Oder sagen wir, was sie über ihr eigenes Leben wissen. Für utopisches Denken müssen Sie auf der anderen Seite viel mehr über die Welt wissen und wie sie an anderen Orten funktioniert. Was dort vielleicht gut ist, was weniger. Sie müssen sich interessieren für Menschen, die ganz anders sind als Sie selbst.

Sie können als Denkübung ihr eigenes Leben reflektieren und darüber nachdenken, wo in ihrem Leben u.a. Ihr Geschlecht eine Rolle gespielt hat und was hätte anders sein müssen. Wie war das bei Ihren Eltern? Wie ist das bei Ihren Kindern?

In manchen feministischen Utopien wird die Überlegung aufgeworfen, dass es reichen würde, wenn Geschlechterunterschiede nicht mehr wahrnehmbar wären. Wenn Menschen bei der Geburt kein Geschlecht zugewiesen bekommen würden – was zB auch in Deutschland schon als Forderung existiert und sich endlich politisch übersetzt hat in die so genannte „dritte Option“, also offiziell einen Geschlechtseintrag zu haben, der weder cis männlich oder cis weiblich ist. Der Feminismus, den ich vertrete, der schließt ein, sich auch für die Rechte der Menschen einzusetzen, die sich nicht-binär verorten und für trans Menschen. Für mich geht es im Feminismus u.a. Um Geschlecht als Unterdrückungskategorie, daher würde es zu kurz greifen, sich nur mit den Rechten von Frauen zu befassen, denn die Geschlechter, die es neben cis Männern und cis Frauen gibt, sind noch einmal deutlich stärker marginalisiert als Frauen. Und trans Personen, die fälschlicherweise ein Geschlecht zugewiesen bekommen haben, das ihrer Geschlechtsidentität nicht entspricht, erfahren eine andere Diskriminierung als cis Männer oder cis Frauen sie erfahren. Der Feminismus steht also vor einer größeren Herausforderung, als Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen herzustellen, sondern muss zusätzlich die Diskriminierung von anderen Geschlechtsidentitäten und auch sexuellen Orientierungen beenden.

Das meinte ich, als ich zu Beginn davon sprach, dass alle Berechnungen, die aktuell angeben, wann die Gleichberechtigung erreicht sein wird, falsch sind, da sie zB nicht mit einkalkuliert haben, wann eine trans Frau ein vergleichbares Leben mit einer cis Frau und einem cis Mann haben wird. Zudem gibt es nicht nur den Gender-Pay-Gap, sondern auch noch einmal einen Pay-Gap zwischen weißen Frauen und Frauen of Colour. Daher ist der Feminismus eine stetig lernende Bewegung – das hoffe ich zumindest. Feminist*innen arbeiten in vielerlei Strömungen und sind im Austausch mit anderen Bewegungen, um das komplexe Gewebe von unterdrückenden Strukturen zu entwirren und dabei immer wieder neu zu verstehen, wo Mehrfachdiskriminierungen greifen und welche Faktoren vielleicht noch nicht mitbedacht wurden.

Das ist nicht neu. Schwarze Feminist*innen kritisieren den Weißen Feminismus schon seit Jahrzehnten zu Recht dafür, dass Weißer Feminismus – und das ist der, der noch immer dominant in der Öffentlichkeit steht – die Verschränkung von Rassismus und Geschlechterdiskriminierung ausblendet und unzureichend mit anderen feministischen Gruppen zusammenarbeitet, sie sogar unterdrückt.

Es gibt seit einigen Jahren einen Begriff dafür, den Sie vielleicht kennen werden: Intersektionalität. Er geht auf die Professorin Kimberly Crenshaw zurück und auf einen wissenschaftlichen Aufsatz von ihr, der schon 1989 unter dem Titel: „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics“ erschien. Der Begriff beschreibt zum einen, wie Mehrfachdiskriminierungen wirken können, zum Beispiel bei einer schwarzen Frau. Sie kann sexistisch als Frau diskriminiert werden, rassistisch als Schwarze oder gleichzeitig als Schwarze und als Frau. Der Anspruch eines intersektionalen Feminismus muss es also sein, verschiedene Diskriminierungsformen mitzudenken. Das ist grundlegend, um das Konzept von Solidarität wirklich tragfähig zu machen.

Crenshaw sagt, es gebe keine selbstverständliche Solidarität unter schwarzen Menschen, genauso wenig, wie weiße Feministinnen sich selbstverständlich auch für Frauen of Color einsetzen. Weiße Frauen zB würden im Kampf gegen Sexismus Solidarität von schwarzen Frauen erwarten, ohne selbst etwas für sie zu tun oder sie überhaupt als diskriminierte Gruppe wahrzunehmen. „Asymmetrische Solidarität“ nennt sie das.

Diese asymmetrische Solidarität beantwortet vielleicht, warum es die große feministische Bewegung in Deutschland nicht gibt. Warum eine Idee wie die Quote für Vorstände keine Begeisterungswellen auslöst. Privilegierte Menschen setzen ihre Themen in den Vordergrund, priorisieren sie – sind aber auf der gleichen Seite zu selten bereit, die Themen von stärker marginalisierten Frauen und Menschen mit zu unterstützen.

Frauen sind sehr unterschiedlich und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Unterschiedliche Utopien. Und es gibt mehr Frauen, für die ein Vorstand oder eine Führungsposition ohnehin unerreichbar ist, und die klug genug sind zu wissen, dass es ihnen selbst nicht nutzt, wenn jeder Dax-Vorstand nun auch ein paar Frauen hat. Der angenommene Trickle-Down-Effekt, dass auf mehr Frauen in Führungspositionen mehr Frauen im Unternehmen insgesamt folgen und bessere Arbeitsbedingungen für Frauen – jede Art von Frauen – der zeigt sich nämlich bislang nicht. Das kann damit zu tun haben, dass Frauen, die aufsteigen, sich an den männlichen Maßstäben orientieren, um sich kulturell einzufügen. Die feministische Revolution kommt also nicht automatisch mit der Frauenquote. Und dazu gibt es den sehr treffenden Satz: „Wir brauchen nicht Frauen in führenden Positionen, wir brauchen feministische Frauen in führenden Positionen.“

Und zwar feministische Frauen, die in der Lage sind, intersektional zu denken und zu handeln. Wir sehen bei einflussreichen Frauen aber eher, dass sie das Boys-Club-Verhalten von Männern kopieren und Ihresgleichen fördern. Für die feministische Utopie ist aber eine Frau an der Spitze eines Unternehmens oder eines Staates, die nicht feministisch ist, die Mehrfachdiskriminierungen nicht interessieren, die selbst an Unterdrückungsmechanismen beteiligt ist, erst einmal kein Gewinn. Von weißen, privilegierten Frauen, die jetzt schon Geld, Macht und Einfluss haben, muss mehr kommen an Solidarität mit Frauen außerhalb ihrer eigenen Lebenswelt. Von den Männern, die sich für progressiv halten und von sich sagen, dass sie Gleichberechtigung unterstützen, muss sehr viel mehr kommen, damit diese Unterstützung mehr ist als warme Worte.

Allein die Geschlechterdiskriminierung zu beseitigen, reicht also nicht aus. In der feministischen Utopie darf es keinen Rassismus mehr geben, keinen Klassismus, keinen Ableismus – also Behindertenfeindlichkeit –, keine Altersdiskriminierung und viele weitere Formen des Diskriminierung. Einige davon tauchen im deutschen Antidiskriminierungsgesetz bzw. Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz auf, andere nicht. Zum Beispiel können Sie derzeit als dicker Mensch keine Antidiskriminierungsklage führen, wenn sie vermuten, aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht eingestellt worden zu sein. Das AGG kennt diese Kategorie nicht. Das AGG kennt zwar die Kategorien Frau und Mann, aber es kenn die Kategorie Eltern nicht. Neben den vielen Schwachstellen, die das AGG hat – und ich möchte kurz darauf hinweisen, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes seit fast zwei Jahren nur eine kommissarische Leitung hat und das Thema politisch nicht unbedingt das Relevanteste ist – gibt es aber in Deutschland auch noch sehr viele Gesetze, die Menschen explizit diskriminieren und teils mit erniedrigenden Maßnahmen verbunden sind. Zum Beispiel, dass zwei lesbische Frauen nicht von Anfang an beide die rechtlichen Mütter ihres Kindes sind – und sie trotz der Ehe für alle heterosexuellen Ehen damit nicht gleichgestellt sind. Sie müssen sich der nicht angemessenen Prozedur der Stiefkindadoption fügen, um beide gegenüber ihrem Kind die gleiche Verantwortung tragen zu können. Eine lesbische Co-Mutter also, die ihr Kind von Anfang an so liebt wie ein Vater, wird vom Staat auf ihre Eignung als Elternteil geprüft. Das ist entwürdigend.

Das Verbot der Operationen an intersexuellen Kindern ist noch nicht gesetzlich geregelt. Für trans Menschen ist der Prozess, ihre Geschlechtsidentität auch behördlich korrekt dokumentiert zu haben, nicht gerade ein Weg der Befreiung, sondern eine gesetzlich angeordnete Qual.

Es liegt also schon eine ganze Menge utopisches Potenzial herum, um diese Welt sehr schnell und sehr einfach ein Stück menschlicher und feministischer zu machen. Wer Angst vor dem Wort Feminismus hat, kann auch schlicht Gleichberechtigung sagen oder auf die Würde des Menschen verweisen. Wenn wir uns auf Artikel 1 des Grundgesetzes einigen können, dann ist diese Welt schon ein Stück feministischer. Artikel 1, wirklich modern interpretiert, mit dem Wissen, dass wir über die Vielfalt der Menschen haben, würde eine ganze Menge anderer Artikel und Gesetze nach sich ziehen, die es aktuell so nicht gibt.

Zu 70 Jahren Grundgesetz wurde im letzten Jahr auf allen möglichen Festen und Feiern gefragt, ob das Grundgesetz ein Update braucht, und ich kann dazu aus feministischer Sicht nur sagen: Ja. Schon lange. Zwar interpretiert das Bundesverfassungsgericht das existierende GG schon länger sehr viel modernern als der Gesetzgeber, denn hier wurden für Schwule und Lesben schon einige Dinge erreicht, aber viele Diskriminierungen hält das Grundgesetz eben gerade leider noch aufrecht – zum Beispiel die Frage danach, was eigentlich eine Familie ist und in welchem Verhältnis Familie und Ehe zueinander stehen.

Dabei ist das keine neue Debatte und ich möchte Ihnen kurz zwei Vorschläge fürs Grundgesetz vorlesen, die schon etwa 30 Jahre alt sind, die immer noch hypermodern klingen, aber eben so leider nicht im Grundgesetz stehen.

Im Artikel 6 des Grundgesetzes heißt es: »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung« Macht man sich hier mal kurz ehrlich, müsste es heißen: »Die Hetero-Ehe steht unter einem ganz besonderen Schutze und die Familie dann, wenn ihr ein verheiratetes Hetero-Paar vorsteht.«

Einen anderen Vorschlag machte das Frankfurter Frauenmanifest von 1991 (das sind Sage und Schreibe fast 30 Jahre!) mit folgendem Vorschlag: »Frauen und Männer, die Kinder aufziehen, [Kranke oder alte Menschen versorgen], stehen unter besonderem Schutz des Staates. (…) Andere Lebensgemeinschaften, die auf Dauer angelegt sind, haben Anspruch auf Schutz vor Diskriminierung.«

Die Juristin Jutta Limbach, die von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts war und leider 2016 verstorben ist, formulierte ebenfalls 1991 Artikel 6 auf diese Weise vorschlagshalber neu: »Familien sind ungeachtet des Familienstands ihrer Mitglieder zu schützen und zu fördern. Alleinerziehende Eltern sind in besonderem Maße staatlich zu unterstützen.«

Und schon sehen Sie, dass Jutta Limbach noch eine Diskriminierungskategorie mitgedacht hat, die ich heute hier noch gar nicht erwähnt habe, die aber hervorragend erforscht ist und man diejenigen, die von ihr Betroffen sind, nicht einmal als Minderheit bezeichnen kann: die Alleinerziehenden.

Wie ist denn die feministischen Utopie für Alleinerziehende?

Wenn man sich die Steuerklassen anguckt, könnte man sagen: die Utopie des Gesetzgebers ist, dass die Alleinerziehende möglichst schnell wieder heiratet und die Beziehung vom Ehegattensplitting profitieren kann.

Wenn ich mit Alleinerziehenden spreche, würde ich tippen, der Wunsch, wieder zu heiraten, steht nicht unbedingt an erster Stelle. Sie haben andere Ideen.

Aber Sie merken schon, wie Utopie-resistent Gesetze sind. Alleinerziehende Eltern besonders zu unterstützen ist ja nicht einmal eine besonders radikale Idee, sie sollte ja keine Utopie sein. Jutta Limbach hat diesen Vorschlag fürs Grundgesetz vor 30 Jahren gemacht und die Armutsgefährdung von Alleinerziehenden ist immer noch immens und die Arbeitswelt oft nicht kompatibel mit ihrer Lebensrealität.

Es ist auch diese Art der Zermürbung, die aktuelle gesellschaftliche Strukturen uns auferlegen, die utopisches Denken so schwierig macht.

Ich war selbst eine Zeit lang alleinerziehend und die Utopie, die Sie sich dann wünschen, ist einen Abend in der Woche frei zu haben oder am Wochenende mal ausschlafen zu können. Für andere Menschen ist es vielleicht, mal wieder in den Urlaub fahren zu können oder ein halbes Jahr Sabbatical zu machen. Für eine kopftuchtragende Frau kann die Utopie sein, nicht immer danach gefragt zu werden. Für eine trans Frau kann die Utopie sein, dass sie keine Therapie machen muss, um zu beweisen, wer sie ist. Diese Dinge sollten keine Utopien sein, sondern nahe Zukunftsszenarien.

Eine Utopie ist also Akzeptanz für alle. Nicht nur Toleranz, sondern echte Inklusion. Echte Vielfalt. Dass wir uns allen die gleiche Menschlichkeit zugestehen.

Meine These ist, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen utopisches Denken nahezu ersticken.

Wir brauchen ein wenig mehr Utopie schon jetzt im Alltag, um dann über eine große Utopie nachdenken zu können.

Ein anderer Bestandteil der Utopie könnte auch sein: Zeit. Für was haben wir Zeit? Wer bestimmt über unsere Zeit? Für was wollen wir Zeit haben? Für was brauchen wir Zeit? Für was brauchen wir Zeit, damit das Leben überhaupt funktionieren kann?

Eine meiner Lieblingsutopien, die sich dem Zeitproblem annimmt, und eine, die mein Denken inspiriert, ist das 4-in-1-Modell von Frigga Haug. Sie ist Soziologin, kritische Psychologin und marxistische Feministin. Sie hat sich der Frage angenommen, die auch in den aktuellen Debatten um Care wieder von enormer Bedeutung ist, welche Arten der Arbeit eigentlich anfallen, die das menschliche Leben möglich machen und für unsere moderne Gesellschaft aktuell wichtig sind. Sie plädiert für ein neues Verhältnis von Lohnarbeit zu Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit sowie für eine stärkere Gewichtung und Gleichverteilung von kultureller und politischer Arbeit. Sie hat ihr Buch zur 4-in-1-Perspektive bezeichnet als »Eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist«,

Frigga Haug sieht vier verschiedene Dimensionen des Lebens, die auf die Einzelnen in gleichen Proportionen verteilt werden sollen: Tätigkeiten 1. im Erwerbsleben, 2. in der Sorge um sich selbst und andere, also Carearbeit, 3. in der eigenen Entwicklung, 4. in der Politik.

Sie geht von einem 16-Stunden-Tag aus, in dem wir jeder dieser Tätigkeiten jeweils 4 Stunden widmen können. Damit bleiben 8 Stunden für Schlaf – und das legen auch aktuelle Erkenntnisse wieder und wieder dar, die sind das gesunde Maß, dass Menschen in jeder Nacht bekommen sollten, um gesund zu bleiben.

Warum spricht Sie von einer Utopie von Frauen? Haben sich nicht mittlerweile auch sehr viele andere der Forderung nach weniger Erwerbsarbeit und mehr Leben angeschlossen? Es ist durchaus zu beobachten, dass immer mehr Menschen weniger arbeiten möchten und teils mit einer 4-Tage-Woche in die Verhandlung um einen neuen Job gehen. Doch das können sie nur bei ausreichendem Lohn. Die Gegenseite davon ist, dass die Zahl der Menschen in Deutschland, die in mehr als einem Job arbeiten, um genügend Einkommen zu haben, zuletzt auf 3,5 Millionen Menschen gestiegen ist.

Die 4-1-Perspektive ist aus dem Grund vor allem eine Utopie für Frauen, weil damit die unbezahlte Arbeit, die Frauen überwiegend leisten, Anerkennung finden würde. Im 16-Stunden-Tag-Modell von Frigga Haug sind 4 Stunden für Erwerbsarbeit vorgesehen – sehr viele Frauen arbeiten ja bereits jetzt so – in Teilzeit. Die Carearbeit, die sie danach leisten – wie zB die Betreuung der Kinder, der Haushalt – werden nicht als Arbeit anerkannt und so bleibt ein ökonomisches Ungleichgewicht bestehen. In der Realität ist es zudem so, dass weder bei einem Teilzeit noch bei einem Vollzeit-Job von 8 Stunden, die 8 Stunden für Kultur und Politik übrig bleiben, die Frigga Haug vorschlägt. Care-Arbeit an einem normalen Tag mit Kindern umfasst mehr als 4 Stunden – von daher wird sie auch am besten auf mehrere Erwachsene aufgeteilt – und die Arbeitsintensität ist oft zu hoch, um Menschen noch Energie zu lassen, nach der Arbeit sich mehr zu widmen als Fernsehen.

Dass Frigga Haugs Vorschlag nicht mehr Anklang zB auch in der Sozialdemokratie findet, ist dennoch überraschend. Denn ihre Forderung nach Zeit für kulturelle und politische Betätigung müsste eigentlich von allen Parteien unterstützt werden: kulturelle Arbeit steht bei Frigga Haug u.a. Für Weiterbildung – Stichwort lebenslanges lernen. Und Zeit für Politik ist notwendig, um die Zivilgesellschaft und die Parteien in Deutschland lebendig zu halten. Das Durchschnittsalter in der Union und in der SPD liegt bei 60. Wenn Parteien mehr junge Mitglieder wollen, die an Zukunftsthemen arbeiten, die die Gesellschaft breiter repräsentieren, dann wäre eine substantielle Verkürzung der Erwerbsarbeit hier ein sinnvoller Baustein.

Frigga Haug selbst sagt über ihre Utopie für Frauen: „Es richtet sich die Vier-in-einem-Perspektive an alle Menschen, dass sie etwa den Streit um Arbeit, ob sie Lohnarbeit, Hausarbeit, produktiv oder nicht sei, beenden dadurch, dass sie von der gesamtgesellschaftlichen Arbeit ausgehen, nicht bloß von der Lohnarbeit, indem sie eben für alle Arbeiten eine andere Ordnung vorschlägt. Diese eröffnet die Möglichkeit, dass an alle Tätigkeitsbereiche verantwortlich gedacht wird und die Verfestigung einiger mit den historischen Individualitätsformen, so zum Beispiel das Sorgen mit den Frauen, aufgesprengt wird. Bei dem notwendigen Umbau der Gesellschaft kommt den Frauen dabei unerwartet statt einer helfenden eine Schlüsselrolle zu. Sie haben ein genuines Interesse, dass etwa die Sorge für diejenigen, die umsorgt werden müssen, auf alle verteilt wird und von einer Geschlechtsspezifik in allgemeine Verantwortung übergeht und keineswegs vergessen wird. Von der Umverteilung aller Arbeiten haben sie als Menschen mehr zu gewinnen als sie verlieren mit dem verlorenen Anspruch aufs Versorgtwerden im unselbständigen Leben.“

In einem Text der norwegischen Politikwissenschaftlerin Beatrice Halsaa, die 1988 einen Text über die feministische Utopie verfasste, heißt es:

„A feminist Utopia must be founded on the concept of a female standard. This standard is based on the rearing and caring of children, about preparing for birth and death, about structuring society around concrete life processes.“

Sich auf die Geburt und den Tod vorbereiten. Sind das nicht zwei Dinge, an denen wir nicht vorbeikommen? Die feministische Utopie zeichnet sich dadurch aus, zutiefst menschlich zu sein und menschlichen Werten mehr Gewicht beizumessen, als wirtschaftlichen. Es heißt nicht, dass diese nicht auch verbunden werden könnten – der Vortrag hier von Ulrike Hermann im Januar gab wichtige Anstöße dazu.

Wenn wir jedoch auf die Gegenwart schauen und die Missstände in der Geburtshilfe sehen, wo es zunehmend egal ist, wie das Leben eines Menschen beginnt, wo die Sorge von Eltern um ihre Babys nichts wert ist und es nicht nur zu wenige Kitas gibt, sondern auch zu wenige gute. Wenn wir auf die Pflege schauen und wie alte Menschen behandelt werden und auf die Entwicklung der Altersarmut – dann könnte eine feministische Utopie, in der es zentral ist, sich um den Anfang und auch um das Ende des Lebens zu kümmern, hier viel verändern.

Wie wir in Zukunft Carearbeit wertschätzen und organisieren ist – jenseits der Utopien – eines der zentralen Zukunftsthemen. Das ist bislang politisch nicht erkannt worden, aber die Art und Weise, wie Carearbeit organisiert werden wird ist eine zentrale globale Gerechtigkeitsfrage und wird über das Funktionieren von Gesellschaften mit entscheiden.

Ich würde Sie heute noch gern mit dem Begriff „Global Care Chains“ vertraut machen: globale Betreuungsketten. Das beschreibt das Phänomen, dass die Erledigung von Care-Arbeit oft an Arbeitsmigrant*innen outgesourct wird. Es ist in Deutschland schon jetzt so, dass wir unsere Care-Arbeit ohne Arbeitsmigrant*innen – ohne die prekäre Arbeit von Migrant*innen – nicht verteilen könnten. In Deutschland arbeiten zum Beispiel in der Pflege aktuell etwa eine halbe Million Menschen aus Osteuropa – geschätzt 90 Prozent davon arbeiten schwarz.

Gesundheitsminister Jens Spahn ist im vergangenen Jahr u.a. nach Mexiko gereist, um dort dafür zu werben, als Pflegekraft nach Deutschland zu kommen.

Arbeitsmigration hat auch positive Seiten. Die wirtschaftliche Lage der Familien, an die in Deutschland erwirtschaftetes Geld zurückfließt, verbessert sich. Das kann die Bildungsmöglichkeiten der Kinder der Mütter verbessern. Doch was das Phänomen der Global-Care-Chains auch beschreibt, ist dass die Länder, aus denen Menschen abwandern, ein eigenes Betreuungs- und Fachkräfteproblem bekommen. Kinder wachsen ohne ihre Mütter auf – kennen Sie den Begriff „Skype Mothering“? Es gibt nicht genügend Pflegekräfte um die eigenen Alten zu pflegen. Zudem sind die Global Care Chains weiblich.

Privilegierte Frauen, die von ihren Männer nicht bei der Care-Arbeit unterstützt werden und nun das männliche Lebensmodell nachahmen, geben Arbeit ab an Menschen in prekärer Beschäftigung, zum Beispiel eine Arbeitsmigratin. Die Kinder dieser Migrantin zB in Rumänien, werden dann von einem weiblichen Familienmitglied versorgt. Die finanzielle Wertschätzung dieser Arbeit nimmt von Stufe zu Stufe ab und wird unter Frauen verteilt.

Die gegenwärtige Organisation von Arbeit ermöglicht die Gleichstellung von Frauen und Männern nur unvollständig und hat den Männern in dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation keine aktive Rolle zugewiesen. Solange Care-Arbeit nur delegiert wird, müssen Männer sich nicht verändern. Vielmehr laden sie einen kleinen Teil der Frauen ein, ihre Lebensweise nachzuahmen und ebenfalls die Hälfte der täglich anfallenden Arbeit zu verweigern und weiterzugeben. Doch die Menschen, die weniger angesehene Arbeit machen, werden in dem, was gemeinhin als Gleichberechtigung verstanden wird, schlicht vergessen – dabei werden sowohl Karrieren als auch Gleichberechtigung in der Wirtschaft erst von diesen Menschen ermöglicht.

»Keine menschliche Produktion ist möglich, ohne dass die Natur schon produziert hat, und keine Erwerbsarbeit ist möglich ohne vorher geleistete Sorgearbeit – beide werden der Ökonomie unhinterfragt vorausgesetzt«, schreibt Adelheid Biesecker, emeritierte Professorin für Wirtschaftswissenschaften, die sich insbesondere mit dem Thema »Vorsorgendes Wirtschaften« beschäftigt hat. Sie vertritt die Auffassung, dass eine Ökonomie, die Care-Arbeit nicht einbezieht, niemals nachhaltig sein könne.

Die feministische Utopie ist also auch eine Idee davon, eine fragmentierte Welt wieder zusammenzuführen. Sie ist ökologisch, so dass unser Menschsein den Planeten nicht zerstört. Sie trennt die Geschlechter nicht voneinander in unterschiedliche Sphären. Nicht die Alten und Jungen. Sie segregiert Menschen nicht nach Hautfarben, Herkünften, Religion. Sie schiebt Menschen mit Behinderungen nicht ab. Sie akzeptiert die Liebe – egal zwischen wem. Sie lässt uns ganz bleiben als Menschen, in einer Welt, in der wir oft eine Rolle spielen müssen oder Gefühle verstecken. Das ist eine Welt, in der das Menschsein wieder vereinbar wird mit dem Leben. Beatrice Halsaa schreibt dazu:

„It is a world in which we can live, love and die as whole beings, not fragmented like we do today.“

Die Ideen für eine feministische Zukunftsvision können nicht abgeschlossen sein. Sie sind der Zukunft zugewandt, immer im Wandel. Aber sie beginnen schon hier. All das, was wir heute tun, kann schon Teil dieser Utopie sein, im Einklang mit den Werten, die wir uns für die Zukunft wünschen.

 

Dankeschön.

 

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Von Teresa Bücker

Teresa Bücker schreibt, bloggt und twittert, spricht auf Konferenzen, diskutiert im Fernsehen und auf Panels über Journalismus und Politik, den Wandel der Arbeitswelt, Partizipation und Aktivismus, Gerechtigkeit, Repräsentation und Macht. Und das tut sie so klug und klar, dass Spiegel online über sie schrieb, „dass man sie am liebsten in jeder Sendung dabei hätte. Thema egal.“ Ihre Karriere begann 2008, als „der Freitag“ ihren Blog entdeckte und sie als Community-Chefinengagierte – Pionierarbeit. Anschließend beriet sie die SPD als Digitalstrategin – erst den Parteivorstand, dann die Bundestagsfraktion. Sie liebt den Beginn und den Aufbau neuer Organisationen, für ihre Arbeit als Chefredakteurin für das feministische Magazin Edition F wurde sie 2017 als „Journalistin des Jahres“ ausgezeichnet. Im Juni verließ sie das Unternehmen und arbeitet seitdem als freie Publizistin und Beraterin.

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